Wie sollen wir, Kommunist:innen, uns verhalten? Was ist moralisch? Was ist gut, was ist schlecht? Diese Fragen werden wir anhand historischer Beispiele zu beantworten versuchen. Ethik und Moral sind im Marxismus heiß diskutierte Thematiken, doch vor der eigentlichen Debatte müssen Moral und Ethik definiert werden. Dabei handelt es sich natürlich um marxistische Ansätze einer Definition.

Moral

In einer Gesellschaft herrschen gewisse Vorstellungen dessen, was gut und was schlecht sei. Diese Moral, d.i. diese Sitten, sind objektiv-bestehender Aspekt jeder Gesellschaft, da vorherrschende Gedanken unabdingbar jederzeit bestehen. Diese Sitten entstehen durch gesellschaftliche Dynamik, d.i. die interpersonelle beziehungsweise soziale Beziehung. Relationen zwischen Personen sind letztendlich durch die materiellen Bedingungen determiniert. In der kapitalistischen Gesellschaft, also einer Klassengesellschaft, wird Moral durch die Dynamik, d.i. der Widerspruch, zwischen den Klassen(-interessen) bestimmt.

»Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.«
— Marx in »Die Deutsche Ideologie« (1845–46)

Moral ist dementsprechend Ausdruck der materiellen Bedingungen. So ist die vorherrschende Vorstellung der idealen Gesellschaft im Kapitalismus der klassische Liberalismus als Moral der Bourgeoisie. Durch die Ableitung aus den materiellen Bedingungen verändern sich die Sitten der Gesellschaft dialektisch — wie auch die ökonomische Basis. Vertretende einer moralistischen Position — wie beispielsweise auch Religiöse — erheben Anspruch auf die Moral. Sie verstehen die Moral als etwas idealistisches und statistsches, das ein absolutes Optimum habe.

»So sind Freimaurer, Darwinisten, Marxisten und Anarchisten für den römischen Papst Zwillinge, weil sie alle gotteslästerlich die unbefleckte Empfängnis leugnen. Für Hitler sind Liberalismus und Marxismus Zwillinge, weil sie nichts von „Blut und Ehre“ wissen wollen. Für einen Demokraten sind Faschismus und Bolschewismus Zwillinge, weil sie sich nicht dem allgemeinen Stimmrecht unterwerfen. Und so weiter.«
— Trotzki in »Ihre Moral und unsere« (1938)

Beispielsweise ist in der kapitalistischen Gesellschaft das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums der Moral inhärent, da sie — wie bereits ausgeführt — die Interessen der Herrschenden widerspiegelt.

»Wird dies Gebot dadurch zum ewigen Moralgebot? Keineswegs. In einer Gesellschaft, wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind […] wie würde da der Moralprediger ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahren proklamieren wollte: Du sollst nicht stehlen!«
— Engels in »Anti-Dühring« (1877)

Ethik

Auch Moralphilosophie oder Sittenlehre genannt, beschäftigt sich die Ethik mit der Moral. Sie ist jene Fachwissenschaft, die Sittlichkeit als Gegenstand hat. Ihre Zielsetzung ist es, Moral in Konzepte zu fassen, d.i. Prinzipien der Moralität zu formulieren. Die Ethik stellt Systeme auf, die zur moralischen Beurteilung einer Entität dienen sollen. Dabei können sie sich entweder mit getätigten Handlungen beschäftigen — Deontologie und Konsequentialismus — oder mit der moralischen Gutheit des Menschen per se — Tugendethiken — auseinandersetzen. Da sich die moralische Gesetzgebung — wie der Name bereits impliziert — von der Moral ableitet beziehungsweise versucht das ideale Moralabsolutum zu formulieren, beschränkt sich die herrschende Moralphilosophie in den Schranken der Moral, also den Vorstellungen der herrschenden Klasse. Beispielsweise ist im Kapitalismus eine utilitaristische, d.i. nutzenorientierte, Ethik vorherrschend.

»Die Nationalökonomie drückt nur in ihrer Weise die moralischen Gesetze aus.«
— Marx in »Ökonomisch-philosophische Manuskripte« (1844)

Ethischer Sozialismus in der Geschichte

In der Geschichte der sozialistischen Bewegung wurden einige Versuche angestellt, eine sozialistische Ethik zu formulieren. Folgend werden einige Standpunkte des ethischen Sozialismus beschrieben.

Frühsozialismus (Henri de Saint-Simon)

Als einer der bedeutensten Denker des utopischen Sozialismus oder auch Frühsozialismus genannt vertrat Saint-Simon eine moralistische Klassenanalyse anhand der Eigenschaften der jeweiligen Personen. Ihmzufolge ist die Gesellschaft aus zwei Klassen zusammengestellt. Die industrielle Klasse¹ (auch: arbeitenden Klasse), also jene Personen, die reale Arbeit tätigen, d.i. arbeiten, ist entgegengesetzt der untätigen Klasse¹ (auch: parasitäre Klasse), also jene Personen, die reale Arbeit zu vermeiden versuchen, d.i. nicht arbeiten. Saint-Simons Begründung für diesen Unterschied der Klassen ist die natürliche Faulheit des Menschen¹ — jeder Mensch ist ihmzufolge also moralisch faul. Die Aufgabe des Staates solle es dann sein, Menschen trotz dieser natürlichen Faulheit zur Arbeit zu bewegen¹. Zudem basierten seine Theorien auf dem neo-christlichen Konzept der Nächstenliebe², welche ihm nach jede Person zur Solidarität verpflichte.

Saint-Simons Theorie beruht auf der Annahme, der Mensch habe eine absolute Natürlichkeit — ihn seinem Fall unter anderem die Faulheit. Es sei also unabdingbar moralisch gut, zu arbeiten — unabhängig der Bedingungen. Zudem sei Solidarität ein moralisches Absolut, da diese Sitte gottgegeben sei. Die Annahme es gäbe eine idealistisch-festgeschriebene Natur des Menschen widerstreben dem marxistischen Verständnis über Anthropologie und Moral.

Christlicher Sozialismus

Diese Strömung versucht, aus christlich-fundamentalen Wertevorstellungen den Sozialismus abzuleiten. Nach dem christlichen Sozialismus basiert Kapitalismus auf Todsünden — insbesonder Habgier³. Eine christliche Tugend sei wider dem Kapitalismus die Nächstenliebe³, die eine jede Person zur solidarischen Handlung verpflichte, aus welcher sich wiederrum der Sozialismus als das Optimum der Solidarität ableite. Der Kampf gegen das Kapital, d.i. der sozialistische Kampf, sei folglich eine gottgegebene Notwendigkeit zur Erfüllung der christlichen Tugenden. Insbesondere in den Deutschen Bauernkriege spielte die christliche Rechtfertigung einer Revolution bei der analphabeten Bauernschaft.

Der christliche Sozialismus ist mit seinen Berufungen auf Gottgegebenes mit Objektivitätsanspruch ebendieser Moral eine völlig idealistische Bewegung, da sie diese Werte als unabhängig des Menschens feststehend betrachtet. Diese gottgegebenen Werte sein das moralisch-absolute Gut und müssten folglich Grundlage einer jeden sozialistischen Bewegung sein. Die idealistische Annahme, es existiere eine objektiv korrekte Moral unabhängig der Menschen und Bedingungen steht dem materialistischen Weltverständnis Marx entschieden entgegen.

Sozialdemokratischer Revisionismus (Eduard Bernstein)

Bernstein gilt als Begründer des theoretischen Revisionismus, da er viele marxistische Theorien angezweifelt und kritisiert hat. Besonders den dialektischen Materialismus als philosophische Basis des wissenschafltichen Sozialismus machte er zum Gegenstand seiner Kritik. Demnach sei sowohl Dialektik als auch Materialismus eine metaphysische Konzeption, die ersetzt werden müssten⁴. Bernstein fordert als Alternative eine neukantianische Ethik⁵. Eine Begründung gegen den Materialismus versucht der Neukantianismus wie folgt:

»Ich bitte Sie nicht zu vergessen, dass auch der Materialismus eine metaphysische Hypothese ist, eine Hypothese, die sich im Gebiet der Naturwissenschaften allerdings als sehr fruchtbar erwiesen hat, aber doch immer eine Hypothese. Und wenn man diese seine Natur vergisst, so wird er ein Dogma und kann dem Fortschritt der Wissenschaft ebenso hinderlich werden und zu leidenschaftlicher Intoleranz treiben wie andere Dogmen. Diese Gefahr tritt ein, sobald man Tatsachen zu leugnen, oder zu verdecken sucht.«
— Helmholtz in einer Rede o.T. (1877)

Diese Beurteilung des dialektischen Materialismus ist völlig zirkelschlüssig und unsinnig. Eine jede abstrakte Konzeptionierung ist ein metaphysisches Konstrukt. Demnach ist der dialektische Materialismus ohne Frage eine metaphysische Hypothese. Entgegen des Neukantianismus und anderen idealistischen Strömungen besteht die Charakteristik des Materialismus darin, die metaphysischen und idealistischen Annahmen auf ein Minimum zu reduzieren. Dass der Materialismus zu Dogmen verleite mag ein korrekter Einwand sein, jedoch disqualifiziert dies keineswegs den Materialismus per se, vielmehr das falsche Verständnis dessen, was Marx dem Materialismus für eine Wertung zuschreibt. Er ist keineswegs eine Gleichung, die lediglich auszurechnen sei. Der Anspruch an das materialistische Weltverständnis ist es, ein Werkzeug darzubieten. Zumal besteht keine Aussage darüber, inwiefern der Materialismus denn nun mehr zur Dogmatik verleite als Idealismus. Marx und Engels selbst wenden sich gegen ein dogmatisches Verständis des dialektischen Materialismus.

»Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.«
— Engels in »Engels an Joseph Bloch in Königsberg« (1890)

Eine Gefahr durch das Leugnen von Tatsachen, wie Helmholtz schreibt, erfordern ein vorheriges Verständnis dessen, was Tatsache ist. Unter der Annahme eines idealistischen Weltbildes irgendeiner Art, verhält sich dieses inhärent inkompatibel gegenüber dem Materialismus. Anhand der zitierten Kritik ist Materialismus also dann falsch, wenn die Eingangsprämisse ein idealistisches Verständnis von Tatsachen ist. Dieser logische Zirkel macht die Argumentation Helmholtz’ ungültig.

Ohnehin ist die moralische Berufung auf Kant unsinnig, da — auch hier — ein moralisches Optimum angenommen wird, was als statisch betrachtet wird. Die marxistische Analyse der Moral als beweglicher Prozess, d.i. als dialektischer Prozess, wird hierbei verletzt.

Italienischer Sozialismus (Antonio Gramsci)

Häufig die Philosophie als Gegendstand machend schreibt Gramsci ebenfalls über die seiner Ansicht nach bestehenden Probleme im Marxismus. In seiner Theorie der Kulturellen Hegemonie beschreibt er, wie die herrschende Klasse das herrschende Weltverständnis bestimmt — dabei auch die herrschenden Ethiken⁶. Dabei stellt er Tugenden auf, welcher seiner Theorie zufolge Notwendigkeit eines sozialen Umsturzes sein.

»Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern.«
— Gramsci in »Gefängnishefte«

Zudem soll eine jede Person laut Gramsci durch die Kultur die eigene Persönlichkeit in Besitz nehmen und ein höheres Bewusstsein zum Verständnis des eigenen Selbst entwickeln⁷. Sein eigenes Sein zu leben bedeutet laut Gramsci Element der eigenen Ordnung zu werden⁸, also einem selbstgesetzten Ideal verpflichtet Disziplin zu leisten. Eine von Anderen abgesonderte Person muss zum Erreichen dieses Stadiums die historischen Bedingungen ebendieser Anderen verstehen⁸.

Gramsci begibt sich mit der Berufung auf notwendige Tugenden und Beschreibungen einer objektiven Persönlichkeit auf geradem Wege in den Idealismus. Wie bereits beschrieben verfehlt die willkürliche Festlegung konkreter Tugenden den marxistischen Materialismus. Die Inbesitznahme der eigenen Persönlichkeit — wie Gramsci es nennt — setzt zudem voraus, dass eine bereits bestehende — lediglich versteckte — Persönlichkeit einem jeden bereits innewohnt. Diese Prämisse ist eine idealistische Annahme — die Frage wo diese Persönlichkeit denn herstamme, bleibt unbeantwortet.

Rätekommunismus (Rosa Luxemburg)

Im Rahmen des Programms des Spartakus-Bundes formuliert Luxemburg das, was sie selbst Sozialistische Bürgertugenden nennt. Mit diesen möchte sie über die ökonomische Erhebung hinaus auch soziokulturelle Emanzipation des Proletariats sicherstellen⁹. Sie formuliert keine konkreten Thesen darüber, welche moralischen Eigenheiten dem Kapitalismus inhärent und damit der Abschaffung würdig sein, sondern sie schafft logisch-positive Aussagen darüber, wie die Moral einer sozialistischen Rätegesellschaft aufgestellt sein solle. Demnach müsse eine sozialistische Gesellschaft beziehungsweise deren Mitglieder ein Gefühl der Verantwortung, d.i. eine Position entgegen Stellvertreterpolitik, haben, das sie zur Produktivität, Disziplin und Ordnung führt, ohne dafür einen Kapitalisten, Sklaventreiben oder Autorität zu benötigen¹⁰. Das höchstmögliche Interesse an Kollektivität, Selbstdisziplin und wahrer Bürgersinn der Massen seien jene moralischen Bedingungen, die eine sozialistische Gesellschaft als Notwendigkeit habe¹⁰.

»Alle diese sozialistischen Bürgertugenden zusammen mit Kenntnissen und Befähigungen zur Leitung der sozialistischen Betriebe kann die Arbeitermasse nur durch eigene Betätigung, eigene Erfahrung erwerben.«
— Luxemburg in »Was will der Spartakusbund?« (1918)

Wie auch bei zuvorigen Positionen besteht die marxistische Kritik hierbei auch wieder im Formulieren konkreter Forderungen und deren Darstellung als absolut gut, unabhängig der tatsächlichen Gegebenheiten.

Realsozialismus

Im späten 20. Jahrhundert gab es in den real existierenden sozialistischen Staaten immer wieder Versuche, eine sozialistische Ethik zu formulieren und etablieren. Die Struktur der allermeisten dieser Versuche ist analog, dementsprechend nur zwei der vielzähligen Beispiele.

DDR — Anfang Juni 1958 fand der V. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands statt, auf dem die sogenannten Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen beschlossen wurden. Darin wurden — in klarer Anspielung auf die biblischen zehn Gebote — moralische Forderungen and Bürger:innen der DDR festgehalten, die laut Parteitag notwendig zur Erhaltung des Sozialismus seien. Diese behandelten Forderungen nach Solidarität innerhalb der DDR, aber auch mit unterdrückten Völkern, nach sozialistischer Erziehung der Kinder, nach Sparsamkeit und nach einigen weiteren Aspekten¹¹.

VRC — Auch in China versuchte Mao insbesondere im Rahmen der Kulturrevolution eine sozialistische Moralverstellung zu etablieren. Beispielsweise in Gegen den Liberalismus erklärt er, mit welchen Eigenschaften und Handlungsdivisen Liberale zu identifizieren sein und welche Handlungen und Eigenheiten Sozialist:innen im Gegensatz dazu einhalten sollten. Beispielsweise einen Einwand bringen, sobald Konterrevolutionäres verlautet wird¹².

Den Ethikkonzepten des Realsozialismus ist gleiches entgegenzusetzen, was bereits mehrfach die Kritik war: Versuche einer konkreten Formulierung einer idealen Moral — in Ignoranz dessen, dass auch diese Formulierung abhängig von derzeitigen Bedingungen waren.

Sozialistische Moral und Ethik — geht das?

Anfangs hatten wir festgehalten, was Moral und Ethik sind. Moral war ein Beschreibung für jene Sitten, die objektiv bestehen. Ethik war eine Konzeptionierung dieser, d.i. ein moralisches System. Da Ethik sich als Abstrahierung der Moral darlegt, können wir die Fragestellung nach einer sozialistischen Version ebendieser darauf reduzieren, ob es uns denn möglich ist, eine sozialistische Moral zu begreifen — sofern sich das als unmöglich entpuppt, wäre eine Abstrahierung des Unmöglichen folglich auch unmöglich. Moral wiederum ist eine Manifestation der Basis und des Überbaus einer Gesellschaft. Um eine sozialistische Ethik entwerfen zu können, müssen wir als — schlussendlich — die Basis sowie den Überbau der kommunistischen Gesellschaft begreifen, da diese — als Ziel der sozialistischen Bewegung — das Maß dessen wäre, was eine gute Ethik ausmache. Können wir denn die gesellschaftlichen Aspekte einer kommunistischen Gesellschaft bereits im Kapitalismus erkennen? Engels hat darauf eine einfache Antwort: Nein.

»Und nun ermesse man die Selbstüberheburg [derjenigen], [die] mitten aus der alten Klassengesellschaft heraus den Anspruch mach[en], am Vorabend einer sozialen Revolution der künftigen, klassenlosen Gesellschaft eine ewige, von der Zeit und den realen Veränderungen unabhängige Moral aufzuzwingen! Vorausgesetzt selbst — was uns bis jetzt noch unbekannt -, daß [sie] die Struktur dieser künftigen Gesellschaft wenigstens in ihren Grundzügen verstehe[n].«
— Engels in »Anti-Dühring« (1877)

Es könnte also innerhalb der Klassengesellschaft niemals gelingen, eine exakte Aussage über die Bedingungen in einer klassenlosen Gesellschaft zu treffen. Folglich ist es uns auch nicht möglich, eine ideale Moral zu formulieren — gleiches bei Ethiken. Zumal eine solche Formulierung die Prämisse bedürfe, innerhalb der kommunistischen Gesellschaft existiere eine undynamische, gar statische, Moral, was, wie erwähnt, den Grundzügen der Dialektik, d.i. nichts anderes als ebendiese Dynamik, widerspreche. Dazu kommt, was Engels als Zufälligkeiten bezeichnet.

»[Zufälligkeiten sind] Dinge[] und Ereignisse[], deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können.«
— Engels in »Engels an Joseph Bloch in Königsberg« (1890)

Selbst in der Annahme, wir wüssten völligst über die ökonomischen Bedingungen bescheid, wäre eine Formulierung der Moral nicht einfach ein Lösen einer Gleichung. Mit einer Prämisse, die an Unwahrscheinlichkeit kaum zu übertreffen ist, könnten wir also — selbst dann — nicht eindeutig wissen, welche Moral sich in der kommunistischen Gesellschaft entwickeln würde.

Berechtigterweise könnte der Einwand folgen, dass Eigenschaften wie beispielsweise Solidarität wohl kaum als moralistischer Unfug abzutun sein können und — mit großer Gewissheit — ist Solidarität eine in der sozialistischen Bewegung verbreitete Eigenschaft. Doch dies sollte — wie gerade hergeleitet — nicht aufgrunddessen geschiehen, dass Solidarität moralisch gut sei oder in eine sozialistische Ethik passe. Die Eigenschaft des solidarischen Zusammenhalts folgt als materielles Resultat aus dem Klassenkampf und eben nicht, weil sie gut ist. Ähnlich verhält es sich mit anderen Eigenschaften.

Amoralismus — ein Leben ohne Moral?

Moralische Werturteile sind — vor dem erreichen einer kommunistischen Gesellschaft — also überflüssig für sozialistische Kräfte. Die Konsequenz dessen ist also ein amoralistischer Standpunkt, d.h. ein Leben ohne Berufung als moralische Gutheit. Wonach sollten Sozialist:innen dann handeln? Marxistisch begründetes Handeln ist als Bestrebung des Durchsetzungsversuchs der objektiven Interessen des Proletariats zu verstehen. Das ist — in ferner Zukunft — der Kommunismus. Handlungen sollten also nach eben diesen objektiven Interessen mit dem Endziel des Kommunismus getroffen werden und nicht nach moralischen Absoluten. Das Aufgreifen aktuell gültiger Moral — Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — ist jedoch nichtsdestotrotz ein effektives Mittel der Agitation, wobei dieser Versuch jedoch mit Vorsicht zu genießen ist, um den marxistischen Standpunkt nicht als moralistisches Werturteilsystem darzustellen. So sollte Gegenstand moralischer Agitationsversuche eher sein, inwiefern die Borgeousie selbst die eigens auferlegten Moralvorstellungen nicht erfüllt — auch wenn diese nicht richtig sein. Kritische Gedankenanstöße zum Hinterfragen des Effektes von Moral — also der Rechtfertigung der Verhältnisse, wie beispielsweise ein Leitsatz Du sollst nicht stehlen — können auch agitativ nütliches Element sein. Kritiken durch sozialistische Kräfte dürfen jedoch nicht in eine moralistische Tendenz verfallen. Beispielsweise ist Pornographieinstustrie nicht zu kritisieren, da diese schlecht oder verwerflich sei, sondern da diese ein Ausbeutungsverhältnis darstellt, das gegen die objektiven Interessen des Proletariats strebt.